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08. June 2022

Evidencebased Medicine | Korruption in der Medizin

Evidenzbasierte Medizin durch die Interessen der Pharmaindustrie, fehlende Regulation und Kommerzialisierung der Medizinischen Universitäten korrumpiert

Die Illusion der evidenzbasierten Medizin
J. Jureidini, LB McHenry
BMJ 2022;367 doi: https://doi.org/10.1136/bmj.o702
 
Die Autoren stellen zu Beginn ihres Beitrages fest, dass die evidenzbasierte Medizin (EbM) durch die Interessen der Pharmaindustrie, fehlende Regulation und Kommerzialisierung der Medizinischen Universitäten korrumpiert wurde.
Das ursprüngliche Ziel der EbM war die Schaffung eines neuen Paradigmas um eine solide wissenschaftliche Basis für die Medizin zu schaffen. Der Wert einer solchen Intention hängt von zuverlässigen Daten klinischer Untersuchungen ab, die jedoch häufig von der pharmazeutischen Industrie durchgeführt und unter Nutzung des Namens bekannter Kliniker publiziert werden.

Die Medizin wird in einem hohen Ausmaß von einer kleinen Zahl sehr großer pharmazeutischer Unternehmen dominiert, die bezüglich ihres Marktanteils in Konkurrenz stehen, hinsichtlich ihrer Bemühungen einer Ausweitung des Gesamtmarkts jedoch sehr effektiv kooperieren. Der kurzfristige Stimulus der Privatisierung wird von den Anhängern einer freien Marktwirtschaft begrüßt, die damit einhergehenden und a priori nicht beabsichtigten langfristigen Folgen für die Medizin sind jedoch schwerwiegend.

Der wissenschaftliche Fortschritt ist bedroht, weil die Pharmaunternehmen die Daten kennen und deren Eigentümer sind, negative Resultate unterdrückt werden, über ungünstige Wirkungen nicht berichtet wird und die Rohdaten nicht mit der akademischen Forschungsgemeinschaft geteilt werden. Patienten sterben wegen des negativen Einflusses des kommerziellen Interesses an der Forschung, auf die Universitäten und die Gesundheitsbehörden.
Die Verantwortung der Pharmaunternehmen gegenüber ihren Aktionären bedeutet, dass die hierarchische Machtstruktur, die Produktloyalität und die PR-Propaganda Priorität gegenüber der wissenschaftlichen Integrität besitzt. Obwohl Universitäten immer schon elitäre Institutionen mit einer gewissen Abhängigkeit von Zuwendungen waren, haben sie über lange Zeit Wert darauf gelegt Wächter der Wahrheit und des moralischen Gewissens der Gesellschaft zu sein. Aber angesichts einer inadäquaten finanziellen Fundierung durch die öffentliche Hand haben sie einen neo-liberalen Weg gewählt indem sie aktiv finanzielle Mittel aus der Pharmaindustrie eingeworben haben. Auf diese Weise werden die Universitäten zu Instrumenten der Industrie.
Durch die Kontrolle über die Forschung, die Publikationen und die Fortbildung werden die Universitäten zu Vertretern für kommerzielle Produkte. Werden Skandale im Zusammenhang mit der Partnerschaft zwischen der Industrie und den Universitäten über die Massenmedien bekannt, wird das Vertrauen in akademische Institutionen geschwächt. Akademische Führungspersönlichkeiten die ihre Position infolge hervorragender Tätigkeiten in ihrer Wissenschaftsdisziplin erlangt haben, werden durch Fundraiser und akademische Manager ersetzt die gezwungen sind ihre Nützlichkeit nachzuweisen und wie gut sie dazu in der Lage sind, Sponsoren aus der Industrie zu requirieren.

In der Medizin werden jene Personen die in der Universität Erfolg haben mit hoher Wahrscheinlichkeit als Meinungsbildner betrachtet und ihre Karriere kann durch die Möglichkeiten der Industrie gefördert werden. Potenzielle Meinungsbildner werden von den Unternehmen der Industrie auf der Basis einer komplexen Anordnung von Profilierungsaktivitäten ausgewählt. Ein Beispiel dafür ist ihr Einfluss auf die Verschreibungsaktivitäten von anderen Ärzten. Ein weiteres Kriterium ist das Prestige welches die Universität zur Markenbildung der Pharmaprodukte beiträgt. Als gut bezahlte Mitglieder von Advisory Boards präsentieren sie die Resultate der industriellen Forschung bei medizinischen Tagungen und bei der ärztlichen Fortbildung. Anstatt eines finanziell desinteressierten Wissenschaftlers der die Wirkungen der Medikamente kritisch und objektiv beurteilt, werden daher sie nach der Diktion des Marketing zu „Produkt Champions“.

Ironischerweise genießen die von der Industrie gesponserten Wissenschaftler viele der Vorteile der akademischen Freiheit wie sie von den Universitäten, der Industrie und den Herausgebern von Zeitschriften zur Verfügung gestellt werden um ihre Sicht dazustellen, auch wenn sie mit der realen Evidenz nicht übereinstimmen. Während die Universitäten es verabsäumen diese Mißinterpretationen der Wissenschaft als Resultat solcher Kooperationen zu korrigieren, werden Kritiker der Industrie mit Ablehnung ihrer eingereichten Manuskripte, rechtlichen Drohungen und einer potenziellen Zerstörung ihrer Karrieren konfrontiert. Der Fortbestand von Institutionen die auch weiterhin eine wissenschaftliche Objektivität und Unparteilichkeit  vertreten ist zur Gänze vom Wohlwollen der politischen und wirtschaftlichen Macht abhängig; das Eigeninteresse hat dabei immer Vorrang vor objektiven Beweisen.
Die Gesundheitspolitik erhält finanzielle Mittel von der Industrie und die Gesundheitsbehörden nutzen von der Industrie bezahlte und durchgeführte Studien für die Zulassung von Medikamenten ohne in den meisten Fällen die Rohdaten zu kennen.

Was für ein Vertrauen kann man in ein System haben, in dem es Pharmaunternehmen erlaubt ist „Heimarbeit“ zu machen anstelle einer Untersuchung ihrer Produkte durchunabhängige Experten als Teil eines öffentlichen Regulationssystems? Uninteressierte Regierungen und beeinflusste Behördenvertreter werden wohl kaum notwendige Änderungen einleiten um die Forschung vollständig vor dem Einfluss der Industrie zu bewahren und Publikationsmodelle, die abhängig sind von der Bezahlung der Druckkosten, von Werbung und Sponsoring, abzuschaffen.

Die Autoren schlagende folgende Maßnahmen vor:
- Beendigung der finanziellen Fundierung der Behörden durch die Industrie,
- Besteuerung der Pharmaunternehmen um unabhängige Studien zu finanzieren und, möglicherweise am Wichtigsten,
- die Veröffentlichung anonymisierter individueller Patientendaten sowie der Studienprotokolle auf adäquat zugänglichen Webseiten, sodass fachlich kompetente Personen auf individueller Basis oder im Auftrag von öffentlichen Gesundheitseinrichtungen die Methodik und die Ergebnisse der Studien sachlich streng und objektiv beurteilen können.

Nach  der notwendigen Änderung der Einverständniserklärungen können die Studienteilnehmer von den Studiendurchführenden verlangen die Daten frei zugänglich zu machen. Die offene und transparente Publikation der Daten steht in Übereinstimmung mit der moralischen Verpflichtung gegenüber den  Untersuchungsteilnehmern  - Menschen die in eine Behandlung mit potenziellen Risiken involviert werden und zurecht erwarten können, dass die Ergebnisse die auf der Basis ihrer Teilnahme gewonnen wurden, in Übereinstimmung mit den Prinzipien der wissenschaftlichen Seriosität genutzt werden. Bedenken der Industrie hinsichtlich des Schutzes der Privatsphäre und der Rechte an geistigem Eigentum dürfen nicht überwiegen.

https://www.bmj.com/content/376/bmj.o702
 

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